Die Deutsche Schule Santiago hat 2013 eine kleine, aber feine Schwester bekommen: das Colegio Alemán Chicureo. Die private Schule für die gehobene Mittelschicht der neuen exklusiven Wohngebiete nordöstlich von Santiago hat ein etwas anderes pädagogisches Konzept. Es trägt die Handschrift von Schulleiter Rolf Kessler (58), der in Chicureo zudem so etwas wie ein Bauleiter geworden ist.
Von Petra Wilken
Die Corporación Educacional Federico Froebel, die 2010 aus dem früheren Schulverein der Deutschen Schule Santiago (DSS) hervorgegangen ist, hat nun drei Bildungseinrichtungen zu verwalten: die traditionelle DSS, die Handelsschule Insalco und die neue Deutsche Schule Chicureo im Stadtteil Piedra Roja der Gemeinde Colina. Der Verein hat Rolf Kessler 2013 die Position des Schulleiters angeboten. Die Herausforderung, an der Entwicklung eines neuen pädagogischen Konzepts wie auch der baulichen Gestaltung einer Schule verantwortlich mitzuwirken, war für den Deutschen zu verlockend.
Es ist ihm anzumerken, dass er es nicht bereut hat, seine Position als Schulleiter in Ulm aufzugeben und nach Chile zu kommen, denn hier hat er die Gelegenheit, kreativ neue Wege zu beschreiten, die es so in Chile noch nicht gegeben hat. Die Deutsche Schule Santiago ist in ihren 124 Jahren des Bestehens immer eine Bildungseinrichtung für die deutsche Gemeinschaft und für die Kinder der entsandten Diplomaten und Experten gewesen. In dem neu erschlossenen Wohngebiet Chicureo hingegen haben sich viele junge Familien angesiedelt, die keine direkte Verbindung mit der deutschen Kultur haben. «Wir bieten dreisprachigen Unterricht für Kinder ab drei Jahren an und unser Ziel ist das IB, das internationale Abitur. Wir verstehen uns als internationale Schule mit festen deutschen Wurzeln», definiert der Pädagoge «seine» Schule.
Die Schule in Chicureo könnte vom Architekturstil und der Innenausstattung her genauso irgendwo in Deutschland gebaut worden sein. Die Klassenräume haben große Fensterflächen, helle Fußböden und Wände, sind mit kindgerechten Holzmöbeln, Regalen und didaktischem Material aus Deutschland ausgestattet. Die Schulbücher kommen aus verschiedenen deutschen Verlagen. Im Innenhof sind neben einer Holzeisenbahn zum Klettern zwei große Sandkisten installiert, in denen mehrere Kinder aus der Vorschulstufe spielen. Sie können als Symbol für die pädagogischen Ideen von Rolf Kessler angesehen werden.
«Ein Kind ist ein Kind», sagt Kessler energisch. «Wir wollen auch deutsche Kindergartenkultur in das chilenische Schulsystem einbringen». Er ist kein Freund der Tendenz, schon im Vorschulalter kognitive Lernziele zum obersten Prinzip zu machen. Das ist für ihn kein Widerspruch zu dem Anspruch, eine Schule zu werden, die sich durch akademische Exzellenz auszeichnet.
Der Schulvorstand und die Corporación Educacional Federico Froebel vertrauen dabei auf die internationale und in Deutschland erworbene Erfahrung Kesslers und auf sein Engagement, mit dem er sich immer wieder für die Weiterentwicklung und Modernisierung pädagogischer Konzepte eingesetzt hat. Bevor er nach Chile kam, war Kessler elf Jahre lang in Baden-Württemberg Leiter der Ulmer Spitalhofschule. Das Bundesland gehört zu denen, die als erstes die Umwandlung des bisher mehrgliedrigen Systems der Klassen eins bis zehn mit Grund-, Haupt- und Realschule in Gemeinschaftsschulen umsetzen. In der Gemeinschaftsschule gibt es keine Trennung mehr nach der vierten oder sechsten Klasse, sondern alle Schüler bleiben zusammen an einer Einrichtung.
Zudem hat er in Ulm die Ganztagsschule für die Klassen eins bis vier eingeführt – eine Neuheit vielerorts in Deutschland, wo es bislang nicht üblich ist, dass Kinder länger als bis zur Mittagszeit die Schule besuchen. Besonders wichtig war für Kessler auch, dass das Schulleben realitätsnäher wird. So hat er in Ulm zum Beispiel die Gründung der Schülerfirma «Gastfreunde» forciert. Sie ist kein wirkliches Wirtschaftsunternehmen, sondern wird von Schülern betrieben, die bei verschiedenen Anlässen Gruppen bewirten und inzwischen schon mehrmals einen Kinderkochwettbewerb für «Slowfood» gewonnen haben.
Rolf Kessler stammt aus dem kleinen Ort Aulendorf in Baden Württemberg und studierte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten Sport und Deutsch. Seinen ersten Aufenthalt als Auslandslehrer hatte er von 1989 bis 1994 an der Deutschen Schule in Arequipa in Peru. Dort lernte er seine Frau kennen. Inzwischen sind sie seit 20 Jahren verheiratet und haben insgesamt vier Kinder. «Eine Patchwork-Familie», sagt Kessler.
Nach der Rückkehr nach Deutschland unterrichtete er an einer Schule in Biberach. Seine Frau arbeitete als Dozentin für Spanisch an der Universität Ulm. Kessler, der früher in der 3. Liga Fußball gespielt hat und ein leidenschaftlicher Sportler ist, dachte eigentlich nicht daran, noch einmal ins Ausland zu gehen. Dann wurde ihm jedoch 1997 die Leitung der Primarschule der deutschen Humboldt-Schule in Mexiko-Stadt angeboten. So wurde er Chef von 86 Mitarbeitern und verantwortlich für tausend Schüler.
2002 wurde er dann Schulleiter in Ulm. Während dieser Zeit nahm er an Schulprojekten der EU in mehreren Ländern teil. Wo hat ihm Schule am besten gefallen? «In Norwegen. Dort gibt es viele Leute mit Migrationshintergrund. Ihnen wird die Identität gelassen und eine neue dazugegeben». Auch Finnland hat ihm mit seinen kindorientierten Ganztagesschulen, an denen die Wertevermittlung und die Freude am Lernen und nicht die Noten im Vordergrund stehen, gefallen. Wichtige Impulse hat ihm auch das englische Schulsystem gegeben. Dort sind die Lehrer ganz wichtige Bezugspersonen und Vorbilder für die Kinder. «Das hat mich wirklich sehr beeindruckt». Das Lehrer-Kind-Verhältnis ist für ihn ein wesentlicher Bestandteil der Schulpädagogik.
«Kinder kann man nicht wie Fässer füllen, sondern man muss Feuer entfachen», zitiert er Heraklit. Seiner Ansicht nach werden in Chile noch zu oft Fässer gefüllt. In Chicureo hat er die besten Voraussetzungen, das anders zu machen, denn die Schule und die Schüler wachsen gemeinsam von unten (Jahr für Jahr eine Klassenstufe) – dreizügig. Pro Jahr werden 72 Plätze angeboten. Ab der Vorschule, die bereits dreisprachig angelegt ist – Spanisch, Englisch und Deutsch – sind die Klassen mit einer deutschen und einer chilenischen Erzieherin besetzt. Jeden Tag haben die Kinder eine halbe Stunde Sport und eine halbe Stunde Englisch. In der Grundschule haben sie bereits 14 Wochenstunden Deutsch. Alle deutschen Kollegen sind Muttersprachler.
Unterdessen wird die Schule weiter ausgebaut. Im März/April 2016 wird ein weiterer Bauabschnitt eingeweiht werden. Gleichzeitig kümmert sich der Schulleiter gemeinsam mit engagierten Eltern um die Installation eines Rundkurses für Mountainbikes. Pumptrack heißen solche speziellen Anlagen für diesen Radsport. Dafür ist noch genug Platz auf dem Schulgelände. Die Einbindung der Dreisprachigkeit in das akademische Exzellenzprogramm IB und die kindorientierte, an Werten ausgerichtete Pädagogik mit deutlichem europäischen Einfluss, nennt Kessler als Alleinstellungsmerkmal für die neue deutsche Schule in Chicureo. Sie sei eine weltoffene Bildungseinrichtung, die moderne pädagogische Konzepte mit akademischer Exzellenz und internationalen Abschlüssen anbiete.
«Kinder müssen gerne zur Schule gehen», betont Kessler. Mit Johann Wolfgang von Goethe möchte er ihnen «gleichzeitig Wurzeln und Flügel» geben. Das pädagogische Konzept wird deshalb mit einer Rakete illustriert. Wenn es nach Rolf Kessler geht, gibt das Colegio Alemán Chicureo seinen Schülern das Rüstzeug für eine Reise in neue Welten.